Am Oktober 2019 wurde der Bremer Pastor Olaf Latzel aufgrund von Äußerungen über die LGBTQAI+-Community angezeigt. Im Rahmen eines kircheninternen Seminars namens „Biblische Fahrschule zur Ehe“ äußerte er sich so über die LGBTQAI+ Community:
„Der ganze Genderdreck ist ein Angriff auf Gottes Schöpfungsordnung, ist zutiefst teuflisch und satanisch […]“.
„[…] Diese Homo-Lobby, dieses Teuflische, kommt immer stärker, immer massiver, drängt immer mehr hinein […]“
„[…] echt, überall laufen die Verbrecher rum, von diesem Christopher-Street Day […]“.[1]
Unter anderem fielen Ausdrücke wie „Eine Degenerationsform der Gesellschaft“[1] oder sogar, dass Homosexualität todeswürdig sei.[2]
Dieses Seminar wurde damals auf YouTube veröffentlicht und daraufhin folgte die Anzeige: Volkshetze?!
Was genau ist Volkshetze?
Laut § 130 Strafgesetzbuch ist Volkshetze das Angreifen der Menschenwürde einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe durch böswillige oder verächtliche Aussagen.
Denn negative Äußerungen über eine (marginalisierte) Gruppe kann Diskriminierung fördern, Vorurteile bestärken und sogar gesellschaftliche Spannungen schnüren. Daher kann Volkshetze zu Feindseligkeit und Abwertung bestimmter Gruppen beitragen, deren Gleichberechtigung wie auch ihren Wert innerhalb der Gesellschaft beschädigen. Die Gesellschaft vor Volkshetze zu schützen, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Demokratie. Doch wie lässt sich das mit der Religions- und Meinungsfreiheit in Einklang bringen?
Menschenwürde vs. Meinungsfreiheit
Aufgrund der Religions- und Meinungsfreiheit kann jeder seine Überzeugungen äußern, wie extrem diese auch sein mögen. Somit sind Wir frei zu glauben, zu denken, bis in die Knochen von etwas überzeugt zu sein. Wir dürfen diese Meinung äußern und teilen und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer pluralistischen Gesellschaft leben.
Diese Freiheiten greifen aber so lange, bis die Würde anderer Menschen verletzt wird!
Mit der Menschenwürde und der gegenseitigen Toleranz als Fundament des gesellschaftlichen Lebens und der gesellschaftlichen Gerechtigkeit gibt es eine Art Rahmen, der vorgibt, wie weit unsere individuelle Freiheit geht. Das ist ein Gewinn und ein Wert, den wir nicht als selbstverständlich erachten sollten! Die gesamte Gesellschaft profitiert davon.
Auch wir Christen profitieren immens von diesem Privileg, da unsere Religionsfreiheit von dem Staat(!) geschützt wird und wir uns in unserem Glauben ohne Einschränkungen selbst entfalten lassen können. Dieses Recht sollten wir dementsprechend respektieren und im Sinne des Evangeliums nutzen! Wir selbst tragen die Verantwortung, nicht diese Freiheit zu missbrauchen, indem wir verdeckt destruktive und schambringende Rhetorik nutzen, welche wir sogar mit „biblischer Wahrheit“ rechtfertigen. Die Weise, wie manchmal über das LGBTQAI+-Thema in Kirchen gesprochen wird, schrammt mit vollem Elan an die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Gefährdung der Menschenwürde.
Die Wichtigkeit des Falls Latzel
Um die Kontroverse hinter dem Gerichtsprozess von Pastor Olaf Latzel zu verstehen, ist es wichtig, die Bedeutung der Menschenwürde und Toleranz in unserer Gesellschaft zu begreifen. Es hilft nicht nur, diesen einen Fall zu verstehen, sondern auch makroskopisch das Spannungsfeld zwischen den evangelikalen Kirchen und der Gesellschaft rund um LGBTQAI+ nachzuvollziehen und nachzuempfinden.
Wird die Demokratiekompetenz von uns traditionalistischen Christen in Frage gestellt?
Die Anzeige von Pastor Latzel wirft ein inspizierendes, grelles Licht, das jede unserer Kirchen bestrahlt, die sich gegen die volle Inklusion von queeren Menschen ausspricht.
Wer in einem traditionalistischen christlichen Kontext groß geworden ist und selbst LGBTQAI+ ist, hat möglicherweise vom Ton her ähnliche Äußerungen wie die von Pastor Latzel gehört. Zum Beispiel, dass AIDS die Strafe Gottes an Homosexuelle wäre oder wir Kranke oder bis hin zu Traumatisierte Vergewaltigte Verwirrte seien. Auch Vergleiche mit Pädophilie sind nicht selten. Solche Sätze sind mir nicht fremd und dir vielleicht auch nicht. Selbst wenn du heterosexuell bist, hast du vielleicht sowas auch schon mal gehört. Ich als schwuler Christ fühle mich jedenfalls immer betroffen, selbst wenn ich nie Sex gehabt hatte und nie in einer Beziehung mit einem Mann war, falsch fühlte ich mich trotzdem. Diese Äußerungen wurden zu Lasten, die in meinem Kopf schwirrten und mir mein Selbstwertgefühl raubten. Solche invalidierenden und alienierenden Sätze über homosexuelle und transidentitäre Menschen sind immer noch in manchen christlichen Kreisen präsent und fast schon normal. Aussagen, die wie im Fall von Olaf Latzel auch im rechtlichen Kontext diskutiert werden könnten? Das allein finde ich sehr besorgniserregend und hat mich zum Zweifeln gebracht, ob wir überhaupt weise mit dem LGBTQAI+-Thema umgehen oder ob wir doch versäumen, für wahre biblische Wahrheit einzustehen. Wir sind oft so emotional beladen, dass wir die Folgen unserer Haltung für unsere LGBTQAI+-Mitbürger und die Auswirkungen der Aussagen auf unseren Ruf nicht erkennen.
„Pastor Lieblos“- Wie wir wahrgenommen werden
Jedenfalls blickt die Gesellschaft auf uns traditionalistischen Christen. Latzel wurde in diversen Artikeln mit „Pastor Lieblos“[3] bezeichnet. Ungläubige schauen auf uns und stellen unsere moralische Glaubwürdigkeit in Frage. Hält die Welt uns Christen für homophob und ohne Liebe? Sind unsere Werte, die wir repräsentieren, bulletproof wenn es um ethische Fragen geht und besitzt Präzision und Tiefe? Wir werden in Frage gestellt – und das zu Recht. Man kann nicht von der Hand weisen, dass die Debatte über „Ehe für Alle“ einen längeren Rattenschwanz mit sich zieht, wo ein bloßes „Nein! Nicht mit uns!“ nicht mehr ausreicht.
Das eigentliche Problem ins Auge sehen: Das Toleranz Paradox
In dem Lichte der demokratischen Grundordnung stellt unsere Haltung zum LGBTQAI+-Thema eine herausfordernde Debatte dar. Das dahinter liegende Problem wird sehr gut durch das Toleranz Paradox erklärt.
Nach Karl Popper funktioniert Toleranz nur, wenn intolerante Meinungen und Haltungen innerhalb der Gesellschaft nicht toleriert bzw. geduldet werden. Wenn jegliche intolerante Meinung toleriert bzw. geduldet wird, dann würde die Toleranz zwangsläufig ersticken.
„Uneingeschränkte Toleranz führt […] zum Verschwinden der Toleranz. […] Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt.“[4]
Die Beweggründe des Gerichtsprozesses
Unsere Haltung zum LGBTQAI+-Thema erweckt Bedenken in der Gesellschaft, da unsere Meinung als intolerant, unterdrückend und potenziell schädlich wahrgenommen wird. Elanvoll und mit vollem Ehrgeiz sind Mitbürger bereit sich einzusetzen, um diese Intoleranz aus Liebe zur Demokratie in Frage zu stellen. Aus Sorge, dass unsere Haltung auf das Fundament unserer Demokratie nicht aufbaut, sondern sogar für die Demokratie giftig ist. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass niemand unsere Religionsfreiheit rauben oder unterdrücken möchte. Ich glaube auch nicht, dass die Menschen vom Teufel getäuscht werden und das Dämonische hinter LGBTQAI+ einfach nicht erkennen können.
Die Beweggründe der traditionalistischen Christen
Gleichzeitig bin ich auch felsenfest davon überzeugt, dass traditionalistische Christen sich nicht wegen Hass oder Machthunger gegen LGBTQAI+ aussprechen. Das sind Menschen, die mit Leidenschaft Gott und seine Wege suchen und Sündhaftigkeit ablehnen wollen (Epheser 4, 26-27). Mit ehrlichem Herzen wünschen sich traditionalistische Christen für ihre Mitmenschen ein erfülltes Leben und wollen die Sünde und das Bösartige aufdecken (Epheser 5, 11). Selbst wenn Gegenwind kommen sollte, wollen diese Menschen beständig dafür einstehen.
Emphatischer Dialog ist der einzige Schlüssel
In diesen Situationen ist es notwendig, dass beide Seiten sich mit Demut und Liebe bemühen, die Sichtweise der Gegenseite zu verstehen. Für uns Christen ist es von immenser Bedeutung, die Ernsthaftigkeit hinter den berechtigten Sorgen der Gesellschaft zu begreifen! Länger in der Grauzone zwischen Meinungsfreiheit und Volkshetze zu verweilen hat einen zu hohen Preis, den wir nicht zahlen sollten!
Wenn das Gespräch über LGBTQAI+ in polemischen Streitereien ausartet, dann ist der authentische, rechtschaffene Kampf um das Lebenswohl der queeren Mitmenschen für beide Seiten verloren. Innezuhalten, einen kühlen Kopf zu bewahren und willig zu sein, solch einen Grenzgang zu wagen ist eine Tat, die Jesu Liebe näher kommt. Diese Grenzgänger werden einen großen Beitrag zu einem Gesprächsklima leisten, das dem Thema und der Nächstenliebe gerecht wird. Lasst uns diese Grenzgänge eingehen und beide Beweggründe mit Ernsthaftigkeit sowie Respekt betrachten!
Quellen:
[1] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/bremen-pastor-wegen-aussagen-zu-homosexuellen-vor-gericht-das-bibelverstaendnis-des-olaf-latzel-a-44d88411-cbba-490d-ba2b-c77ec123e49b (Stand: 20.10.2024/15:32)
[2]https://www.evangelisch.de/inhalte/178851/25-11-2020/bremer-pastor-olaf-latzel-wegen-volksverhetzung-verurteilt (Stand: 20.10.2024/18:09)
[3]https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/lg-bremen-olaf-latzel-volksverhetzung-pastor-lieblos (Stand: 23.10.2024/21:19)
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Toleranz-Paradoxon (Stand: 23.10.2024/21:17)
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